Reichelsheim

Zuckerrübentransport auf der Horlofftalbahn

Der Güterverkehr spielte auf der Horlofftalbahn lange Jahre neben dem Personenverkehr eine kleine, aber wichtige Rolle. So waren Bahnhöfe wie Beienheim, Reichelsheim und Echzell mit Ladegleisen ausgestattet (früher auch kleinere Bahnhöfe wie Weckesheim). Bis 1991 wurden Zuckerrüben per Zug aus den entsprechend ausgestatteten Bahnhöfen in die Zuckerfabriken transportiert. Der Transport fand mit offenen Güterwagen des Typs Es050 (oder ähnliche) statt. Diese rund 10 Meter langen Wagen fassten etwa 36 Kubikmeter Rüben. Wir erläutern auf dieser Seite mit Blick auf den Bahnhof Reichelsheim, wie sich der Zuckerrübenanbau, die Verabeitung in der Region und der Transport per Bahn entwickelt hat.

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Offener Güterwagen wie beispielsweise die Bauart Es050 transportierten Zuckerrüben über die Horlofftalbahn in die Zuckerfabrik (hier als H0-Modell).

Zuckerrüben in der Wetterau

Die Wetterau ist eine der fruchtbarsten Landschaften in Hessen. Unter anderem bauen die Landwirte hier Zuckerrüben an, die in Zuckerfabriken zu Zucker verarbeitet werden. Der Zucker der Wetterauer Zuckerrüben findet sich heute vor allem in Produkten der Marke 'Südzucker' wieder.

Allerdings hat sich der Zuckerrübenanbau stark verändert. Der Zuckermarkt wird von der EU stark reguliert. So müssen die Landwirte sich mit dem Anbau der Rüben immer wieder anpassen. Die Pflege der Aussaat zog früher viel Arbeit nach sich. Die gerade gewachsenen Pflänzchen wurden per Hand mit der Hacke 'vereinzelt', damit die Pflanzen genug Platz zum Wachsen hatten. Die Sämaschinen waren früher noch nicht in der Lage, das Saatgut gezielt auszubringen. Das Unkraut wurde ausgehackt, damit später die einreihigen Rübenmaschinen, welche zum Ernten der Rüben eingesetzt wurden, nicht verstopften. Außerdem wurden die Blätter der Rüben als Futtermittel verwendet. Da war Unkraut nicht willkommen und konnte je nach Pflanze sogar giftig für das Vieh sein. Viele Kinder verdienten sich hier ein kleines Taschengeld - 50 Pfennig pro Reihe Rüben hacken gab es beispielsweise.

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Rübenvollernter wie diese Stoll V35 waren eines der Standard-Arbeitsgeräte in der Wetterau.


Heute werden Rüben mit Präzision gesät und mehrreihigen Rodern ist es weitgehend egal, wieviel Unkraut zwischen den Rüben steht. Die Blätter werden gehäckselt und nicht mehr als Futter verwendet. Aber auch der Abtransport der Rüben hat sich verändert. Dies beleuchten wir nachfolgend etwas genauer.

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Moderner mehrreihiger Roder vom Typ 'Ropa Euro-Tiger'.


Zuckerfabrik Friedberg

Die 'Actien-Zucker-Fabrik Wetterau' wurde 1882 in Friedberg gegründet. Ein Jahr später begann der Bau durch die Maschinen-Fabrik 'Ilsenburg'. Die Zuckerfabrik wurde östlich des heutigen Friedberger Bahnhofs erbaut und lag damit im Ortsteil Fauerbach. Über die Gleise des Güterbahnhofs erhielt die Fabrik 1913 Anschluss an das Schienennetz. So konnten die Wetterauer Rüben auch über Güterwagen angeliefert werden. Die Landwirte rund um Friedberg hingegen lieferten ihre Rüben per Traktor und Wagen über die Zufahrt in der an Fauerbacher Straße an.


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Diese OpenStreetMap-Karte zeigt die Lage der ehemaligen Zuckerfabrik in Friedberg. Davon ist heute so gut wie nichts mehr zu sehen. Teile des Geländes wurden bereits wieder mit Häusern bebaut.
(Karte © OpenStreetMap und Mitwirkende, CC-BY-SA)


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Blick vom Adolfsturm auf die Friedberger Zuckerfabrik mit ihren großen Silos auf der Ostseite des Friedberger Bahnhofs. Rechts im Bild sind die Gleise des Güterbahnhofs zu erkennen.
(Bilderausstellung 2014 im Friedberger Burggarten)


In den Anfangsjahren wurden in der Fabrik rund 1000 Hektar Zuckerrüben verarbeitet. 1949 war die Menge auf das Doppelte angewachsen. In den letzten Betriebsjahren wurden rund 7700 Hektar Rüben angeliefert und verarbeitet. Bis zu 100 offene Güterwagen trafen täglich in Friedberg ein und wurden auf der Entladestelle per Wasserstrahl entladen. Dazu war eine werkseigene Rangierlokomotive vorhanden. Die letzte Diesellok der Zuckerfabrik des Typs V36 fährt heute übrigens bei den Eisenbahnfreunden Wetterau e.V.

Nach rund 100 Jahren wurde der Betrieb nach der Rübenkampagne 1981/82 eingestellt und die Wetterauer Zuckerrüben seitdem per Bahn nach Groß-Gerau transportiert. Dazu wurden in Friedberg, wie auch in den Bahnhöfen Reichelsheim und Echzell spezielle Verladeanlagen installiert. Zwei Züge wurden täglich in Friedberg zusammengestellt und fuhren über Frankfurt nach Groß-Gerau.


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Die großen runden Silos prägten Jahrzehnte die Fauerbacher Kreuzung kurz vor der Bahnunterführung.
(Ausstellung '100 Jahre Bahnhof Friedberg', Unterführung im Bahnhof Friedberg)

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Blick auf das Gelände der Zuckerfabrik von der Fauerbacher Straße aus.
(Hans Wolf aus 'Die Goldene Wetterau', Kreissparkasse Friedberg)

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Dieser Ausschnitt eines alten Gleisplanes des Friedberger Bahnhofs zeigt die Gleisanlagen der Zuckerfabrik östlich der Gütergleise. Mit "E" ist die Entladestelle der offenen Güterwagen gekennzeichnet. Links unten ist eine Gleiswaage zu erkennen.
(Auszug aus MIBA Spezial 18 [11/93, S.12])


Bilder der V36-Diesellok und der Zuckerfabrik bei der Butzbach-Licher-Eisenbahn


Verladung per Bockkran

Um Rüben vom Feld zum nächstgelegenen Bahnhof zu transportieren, nutzten Landwirte schon immer ihre eigenen Anhänger. Vielfach lieh man sich auch die Anhänger zusammen, um möglichst viele Rüben auf einmal transportieren zu können. An den Bahnhöfen gab es für die Verladung lange Zeit nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurden die Anhänger auf eine Rampe gefahren und direkt in den darunter stehenden offenen Güterwagen gekippt (das setzte allerdings kippfähige Anhänger voraus) oder die Rüben wurden - wie in Reichelsheim - per Ladekran in die Waggons verladen. Dazu wurden auf den Anhängern Netze mit Lastösen ausgelegt, bevor die Rüben auf die Anhänger verladen wurden. Meist wurden zwei oder mehr Netze pro Anhänger benötigt. Das Beladen der Anhänger erfolgte entweder direkt aus dem Rübenbunker des Rübenvollernters während des Rodens oder durch einen Traktor mit Frontlader und entsprechender 'Rübengabel'. Letzteres wenn zur Ernte gerade keine Anhänger oder Netze zur Verfügung standen - dann wurden die Rüben zunächst auf eine Halde am Acker zwischengelagert.

Auf der Verladestraße am Reichelsheimer Bahnhof stand in Höhe des Raiffeisengeländes bis 1982 ein Bockkran. Er wurde von der Zuckerfabrik Friedberg installiert, damit die Bauern ihre Rüben verladen konnten. Der Kran überspannte sowohl die Ladestraße als auch das Ladegleis. Östlich des Ladegleises fuhren die Traktoren mit den Anhängern unter den Bockkran. Die Netze wurden mit den vier Lastösen in die Lasthaken des Bockkranes eingehängt und über den Güterwaggon gehoben. Wenn das Netz richtig positioniert war, wurden zwei der Ösen über einen Seilzug ausgeklinkt und die Rüben fielen in den Waggon. Diese Verladetechnik war sehr zeitaufwendig. Außerdem fielen immer wieder Rüben neben den Waggon oder verblieben auf dem Anhänger. Sie mussten per Hand aufgegabelt und verladen werden.

Ein Bild von dem Bockkran findet sich im Wiki des Heimat- und Geschichtsvereins Reichelsheim.


Verladung per Rübenverladeanlage

rueben10.jpg Anfang der 80er Jahre wurde in Reichelsheim - wie an vielen anderen Bahnhöfen - eine hydraulische Verladeanlage (im Volksmund 'Rübenkippe') gebaut. Hersteller war das Unternehmen "Unsinn record". Das Verladen der Rüben wurde komfortabler. Bei dieser Verladetechnik brauchte der Landwirt keine kippfähigen Anhänger und auch keine Netze mehr. Der komplette Anhänger wurde über eine Kippbühne seitlich gekippt und die Rüben per Förderband auf die Waggons verladen.

Dazu fuhr das Gespann auf die Verladeanlage, die parallel zum Ladegleis gebaut war. An den Anhänger wurde seitlich eine sogenannte 'Schurre' angefahren. Sie sollte verhindern, dass Rüben beim Entladen unter den Anhänger fallen und der Anhänger beim Kippen verrutschte. Nach Öffnen der Bordwand und Kippen des Anhängers durch einen eingewiesenen Maschinisten der Anlage, fielen die Rüben in einen Trog und wurden mit einer hydraulisch angetriebenen Förderkette auf ein parallel zum Gleis verlaufendes Reinigungsband transportiert. Hier wurden Erde und Krautreste von den Rüben getrennt. Von dort aus gelangten die Rüben auf ein verstellbares Verladeband - ebenfalls mit Reinigungsfunktion. Mit diesem Band konnte der Maschinist die seitliche Fallposition in die Waggons regeln.

In Längsrichtung wurden die Waggons mit einer Seilwinde auf dem Abstellgleis bewegt. Dazu war an der Anlage neben dem Ladegleis eine hydraulisch angetriebene Seiltrommel verankert. Über sie verlief in mehreren Windungen ein Zugseil, was dann über zwei Umlenkrollen auf der Verladestraße vor und hinter der Verladeanlage lief. An diesem Seil war ein Lasthaken angeschlagen, der in die Verzugsösen der Güterwagen eingehängt wurde. Sechs bis acht vollbeladene Güterwagen konnten damit bewegt werden. Dabei musste der Maschinist äußerst vorsichtig sein, denn die einmal in Bewegung gesetzten Waggons mussten mit der Winde auch wieder gestoppt werden. Manchmal riss dabei sogar das Zugseil und die Waggons rollten bis auf den Hemmschuh (falls vorhanden!) oder den Prellbock. Waren mehr als acht Waggons zu bewegen, musste teilweise ein Traktor zur Hilfe genommen werden. Die Winde hielt zwar die Waggons auf Position, war aber nicht in der Lage, die Waggons auf der leicht in Richtung Prellbock abfallenden Strecke zu bewegen.

Nachfolgende Grafiken zeigen den damaligen Standort der Verladeanlage und Details der Anlage auf:


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Standort der Rübenverladeanlage am Reichelsheimer Bahnhof (grün markiert) in den 80er Jahren. Damals hatte der Bahnhof noch ein Abstellgleis. Heute befinden sich an gleicher Stelle das Wartehäuschen und Parkplätze.
(Karte © OpenStreetMap und Mitwirkende, CC-BY-SA, Bearbeitung: A.Hitz)


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Detailauszug auf obiger Karte mit Draufsicht auf die Verladeanlage. Nachfolgende Tabelle beschreibt die Anlagenteile. Die orangen Pfeile zeigen die Durchfahrrichtung der Anlieferer.
(nicht Maßstabsgetreu)
(Zeichnung: A.Hitz)



Nr. Beschreibung
1 Kippbühne
Auf dieser Bühne stand der zu entladende Anhänger und wurde nach öffnen der rechten Bordwand quer zur Laufrichtung gekippt, so dass die Rüben über die Anfahrschurre in den Trog (3) fielen.
2 Hebebühne
Über diese Hebebühne wurde je nach Winkel des über die Kippbühne (1) gekippten Anhängers die Hinterachse des Traktors oder vorgespannten Anhängers (bei zwei Anhängern) etwas angehoben, um die Deichsel nicht zu beschädigen. Dies lag in den Händen des Maschinisten und musste beim Kippen beachtet werden.
3 Anfahrschurre mit Trog
Die Anfahrschurre wurde hydraulisch an den Anhänger herangefahren und hatte die Aufgabe, den Anhänger beim Kippen in der Spur zu halten und die Rüben in den Trog zu leiten.
4 Hauptförderband
Das Hauptförderband bestand aus zwei umlaufenden Ketten, an denen Schieber befestigt waren. Diese liefen durch den Trog und beförderten Rüben, Erde und Krautreste über eine Schräge auf das rund vier Meter höher gelagerte Reinigungsband (6). Über das Dach des Maschinistenhauses wurde das Förderband wieder zurück in den Trog geführt. Das Hauptförderband verfügte über einen eigenen Hydraulikantrieb, der unabhängig von allen anderen hydraulischen Funktionen war.
5(a) Maschinistenhaus/Wartungs- und Betriebsstege
Das Maschinistenhaus befand sich in etwa einem Meter Höhe in der Mitte der Verladeanlage und war über einen Steg über dem Trog (3) von Anfahrtseite her erreichbar. Von hier aus wurde die Anlage durch den Maschinisten fast komplett eingesehen und bedient. Die oberen Bänder und Antriebe (6/7) waren über eine Leiter und einen Wartungssteg erreichbar.
Zwischen Kabine und Reinigungsband befanden sich die beiden hydraulischen Antriebsaggregate. Zwei Elektromotore trieben je ein Hydraulikaggregat für die Hauptförderkette und ein Aggregat für alle anderen Anlagenteile an.
6 Hauptreinigungsband
Vom Hauptförderband fielen die Rüben auf das gitterförmige Reinigungsband. Erde und Krautreste fielen in einen darunter liegenden Schmutzbunker (9). Von diesem Band aus gelangten die Rüben auf das Verladeband (7).
7 Verladeband
Das Verladeband stand im 90°-Winkel zum Reinigungsband und war in Richtung Waggon verfahrbar, so dass die in den Waggon fallenden Rüben auf die Waggonbreite verteilt werden konnten. Dieses Gitterband hatte ebenfalls eine Reinigungsfunktion und einen darunterliegenden Schmutzbunker (9).
8 Verzugswinde
Mit der hydraulisch angetriebenen Verzugswinde wurden die für den Transport abgestellten Güterwaggons im Gleis verschoben, so dass die Rüben auf die Waggonlänge entsprechend verteilt werden konnten. Vor und hinter der Verladeanlage waren je eine Umlenkrolle für das Zugseil montiert. Dieses wurde mehrfach über eine Treibscheibe geführt und angetrieben. So konnten die Waggons über eine Strecke von rund 50 Metern verschoben werden, ohne dass der Lasthaken des Seils in einen anderen Waggon umgehängt werden musste. Da aber manchmal bis zu acht Waggons abgestellt wurden, musste das Windenseil umgehängt werden. Allerdings schaffte die Winde acht beladene Waggons nur schwer.
9 Schmutzbänder mit Bunker
In zwei Bunkern wurde während des Verladevorgangs der abfallende Schmutz von den Rüben aufgefangen. Wenn alle Rüben eines Anlieferers verladen waren, wurde über die beiden Schmutzbänder die Erde und Krautreste der Rüben aus den Schmutzbunkern auf einen leeren Anhänger transportiert.



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Blick auf die Reichelsheimer Verladeanlage: Der hintere Anhänger wird gekippt und dessen Inhalt in den Trog entleert. Die Hinterachse des vorderen Anhängers wird zum Schutz der Deichsel etwas angehoben.


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Über das Hauptförderband gelangen die Rüben auf das Reinigungs- und dann das Transportband (oberhalb des Traktors) um dann in die offenen Güterwagen im Hintergrund verladen zu werden. Gut zu sehen ist hier auch die Kabine des Maschinisten in der Mitte der Anlage.


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Erde und Krautreste der Rüben wurden während des Verladens im Schmutzbunker gesammelt und nun auf die leeren Anhänger zurückgefördert. Diese Reste wurden in der Regel wieder auf einem Acker verkippt.


Von der Schiene auf den LKW

Anfang der 90er Jahre wurde der Zuckerrübentransport von der Schiene auf die Straße verlagert. Grund dafür war unter anderem, dass die Bahn die Waggons für den Rübentransport meist nur für die Saison vorhielt und sie sonst über das Jahr nicht genutzt werden konnten bzw. durften. Die Rübenverladeanlage in Reichelsheim und den umliegenden Gemeinden wurden verschrottet. Neue fahrbare Verladegeräte mit Namen wie 'Euro-Maus' traten an ihre Stelle. Sie verladen die gerodeten und auf Halde gelagerten Rüben direkt am Feldrand auf 40-Tonner-LKWs, welche die Zuckerrüben zunächst in die Zuckerfabrik nach Groß-Gerau brachten. Seit der Schließung dieses Standortes 2007 werden die Rüben bis ins nordhessische Wabern oder das südhessische Offstein gefahren.

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Von der 'Maus' auf den LKW und zur Zuckerfabrik - Der Zuckerrübentransport wurde von der Bahn auf die Straße verlagert.



Quellen:
- Wikipedia
- Andreas Christopher
- Div. Publikationen der Südzucker
- Alexander Hitz

Bilder:
- Mit freundlicher Genehmigung der jeweils unter den Bildern genannten Fotografen
- Alle nicht gekennzeichneten Bilder: Alexander Hitz





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