Reichelsheimer Geschichte

Als die Welt untergehen wollte - Das Unwetter vom 30.Mai 2008

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"Am 30. Mai ist der Weltuntergang" sang das Golgowski-Quartett im Jahr 1954. In welchem Jahr wussten die Sänger laut Liedtext damals noch nicht. Die Reichelsheimer wissen seit 2008 zumindest, wie so ein Weltuntergang aussehen könnte...

Am 30.Mai 2008 wurde die Wetterau in den Abendstunden von einem Gewittersturm heimgesucht, wie ihn die meisten Reichelsheimer zuvor noch nie erlebt hatten. Nach einem starken Gewitterregen war die Reichelsheimer Feuerwehr bereits zu einem vollgelaufenen Keller im Haingraben unterwegs. Kurz darauf meldete die Zentrale Leitstelle in Friedberg weitere unter Wasser stehende Keller im westlichen Bereich von Goethe- und Ulmenstraße. Weitere Feuerwehren mit Pumpen und Wassersaugern aus den Stadtteilen kamen zur Hilfe.

Als die Feuerwehren mit dem Auspumpen der Keller beschäftigt sind, kommt eine fahlgelbe bis grünlichschwarze Wolkenwand von Südosten herangezogen und machte den Abend vorzeitig zur Nacht. Die Feuerwehrleute flüchten in ihre Fahrzeuge, fahren sie auf freie Flächen. Das nun folgende Unwetter zieht eine Schneise der Verwüstung quer durch die Wetterau. Eine Art Taifun erfüllt die Luft mit einer Gischtwolke, welche die Sicht auf weniger als 100 Meter herabsetzt. Es prasselen mehr als 70 Liter Regen pro Quadratmeter vom Himmel. Der Sturm reißt Bäume um und Dachziegel oder ganze Dächer mit sich, Unmengen Regen verwandeln Straßen in Bäche. Einige Feuerwehrleute und Anwohner bekommen in den Keller zunächst gar nicht mit, was draußen passiert. Erst als die Wassermengen wieder mit Druck aus der Kanalisation in die Keller schießen, flüchte Sie in die oberen Stockwerke oder in die Fahrzeuge. Gegen 20:15 geht das Unwetter in einen gewittrigen Landregen über. Um 21 Uhr zieht das Unwetter langsam ab und das nochmal zurückkommende Tageslicht lässt erste Schäden erahnen.

Die schwersten Schäden entstehen in Florstadt, Reichelsheim, Echzell und Wölfersheim. Fast jeder Reichlelsheimer hat mindestens einen Wasserschaden oder Sturmschaden zu beklagen. Auch die Feuerwehrleute und deren Familien sind selbst betroffen. Hilfesuchende kommen über den überlasteten Feuerwehrnotruf nicht mehr durch und versuchen Feuerwehrmänner direkt anzurufen. Die Telefone und Handys stehen nicht mehr still. Doch wohin zuerst?
Die Leitstelle alarmiert umliegende Feuerwehren, die zur Hilfe kommen sollen. Doch die örtlichen Wehren haben Schwierigkeiten sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Einsatzstäbe und Erkundungsteams werden gebildet. Sie versuchen sich in der mittlerweise hereingebrochenen Dunkelheit ein Bild von der Schadenslage zu machen, um so die zu Verfügung stehenden Kräfte entsprechend koordinieren zu können. Bis tief in die Nacht werden umgestürzte Bäume von den Straßen beseitigt und Keller leer gepumpt.

Am nächsten Morgen zeigt sich das ganze Ausmaß: Am Ortenbergsgraben zwischen Heuchelheim und Weckesheim stand fast keine der Pappeln mehr, nicht viel besser sah das Heuchelheimer Wäldchen aus. Auch die Horlofftalbahn war durch zahlreiche umgestürzte Bäume blockiert. Am Reichelsheimer Teich hatte das Unwetter viele Bäume zerstört und entwurzelt. Das Ortsbild wird geprägt von beschädigten Fassaden und Dächern, abgeknickten Antennen und Unmengen von Laub und Ästen auf den Straßen. Zwei Tage brauchten die Feuerwehren um einen Großteil der Schäden zu beseitigen. Zum Schluss wurden rund 1300 Einsatzstunden an 274 Einsatzstellen verzeichnet. Die beiden Reichelsheimer Gala-Bau-Unternehmen und der Bauhof hatten noch wochenlang Arbeit mit den Schäden in der Natur. Viele Bäume mussten aufgrund der Schädigungen gefällt werden. Im Reichelsheimer Stadtwald fielen dem Sturm rund 2000 Festmeter Holz zum Opfer.

Video zu dem Unwetter bei YouTube (gefilmt in Bingenheim)


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Eine Birke stürzte an der Ecke Haingasse/Friedensstraße um, ein Fahrzeug wurde dabei beschädigt. (1)

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Eine große Weide stürzte am Bahnhof auf die Gleise der Horlofftalbahn. (1)

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Der erste Zug erreicht in Langsamfahrt Reichelsheim. Noch sind die Gleise vor der Bahnhofseinfahrt durch umgestürzte Bäume blockiert. (1)

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In der Bingenheimer Straße wurde ein großer Nussbaum gegen ein Hausdach gedrückt. Mit Hilfer der Drehleiter wurde der Baum Stück für Stück von der Feuerwehr abgetragen. (1)

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Ganze Dächer hat das Unwetter einfach weggerissen. (1)

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Am Naherholungsgebiet wurden Bäume entwurzelt. (1)

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Blick auf die schweren Schäden am Teich. (1)

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Entlang des Ortenbergsgraben zwischen Reichelsheim und Heuchelheim stürzten nahezu alle Pappeln um. (1)

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Auch das Heuchelheimer Wäldchen wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. (1)

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Entwurzelter Baum am Ortenbergsgraben. (1)

Resultate aus dem Unwetter

Nach diesem Ereignis wurden von der Gefahrenabwehr des Wetteraukreises entsprechende Maßnahmen für solche Unwetter getroffen. Eine jede Stadt und Gemeinde wurde beauftragt, eine Technische Einsatzleitung für größere Unwetterlagen einzurichten und zu bilden. Damit soll die Einsatzdokumentation von der Zentralen Leitstelle in diese Einsatzleitungen verlagert werden und eine Anlaufstelle für die Bürger bei überlastetem Notruf geboten werden. Auch die Reichelsheimer Feuerwehren passten sich der zunehmenden Unwetterlagen in den Sommermonaten an. Jede Stadtteilwehr ist nun mit einem Industrie- oder Wassersauger ausgerüstet. Weitere Pumpen und Ausrüstung für die akute Beseitigung von Wasser aus Gebäuden wurde angeschafft. Im Weckesheimer Feuerwehrhaus wurde die technische Ausrüstung für die Unterbringung der vom Wetteraukreis geforderten technischen Einsatzleitung installiert.
Die Reichelsheimer Stadtverordnetenversammlung zeigte sich bei den Feuerwehren erkenntlich und würdigte deren unermüdlichen Einsatz. "Obwohl die Feuerwehrfrauen und Männer selber Schäden in ihren Wohnungen und Häusern hatten, haben sie uneigennützig zuerst anderen Mitbürgern geholfen." resümierten der damalige Bürgermeister Gerd Wagner und Stadtverordnetenvorsteher Holger Strebert.

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Die Stadt Reichelsheim dankte in einer Stadtverordnetenversammlung den Reichelsheimer Feuerwehren öffentlich für Ihren Einsatz nach diesem Unwetter. (2)


Wie kam es zu dem Unwetter?

In der letzten Maiwoche 2008 unterlag Deutschland aus Wettersicht einer Zweiteilung. Der Süden Deutschlands geriet zunehmend in den Einfluss warmer bis heißer Luftmassen eines Tiefs vom Ost-Atlantik, wobei die warmen Luftmassen von Süd/Südosten herangeführt wurden. Der Nordosten Deutschlands unterlag noch der trockenen mäßigwarmen Ostströmung eines Hochs.
Der 30.Mai begann vormittags mit Schwergewittern, die von Südwesten heranzogen. Am Nachmittag setze erneut massive Gewittertätigkeit ein. Die durch die Zweiteilung entstandene energiereiche Luftmasse beschränkte sich auf einen schmalen Streifen von Baden-Württemberg über Hessen und Rheinlandpfalz bis nach Nordrheinwestfalen. Das so entstandene Multizellen-Cluster (mehrere Gewitterzellen, die sich zu einem großen System zusammenschließen) löste gegen 18:30 Uhr die explosionsartigen schweren Gewitterstürme aus.

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In dieser Radarbild ist rot die sich von Südosten nach Nordwesten schiebende Unwetterfront gut zu erkennen. (3)

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Das Satellitenbild zeigt das riesige Multizellencluster über Hessen. (4)


Bilder:
- (1) Alexander Hitz
- (2) Dagmar Bertram (Wetterauer Zeitung)
- (3) meteociel.com
- (4) sat24.com



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